Königreich Westphalen
Die letzten Monate der westphälischen Herrschaft in Kassel
Grundlagen der westphälischen Herrschaft
Wenige Jahre nach dem Reichsdeputationshauptschluss vom 25. Februar 1803, durch welchen sich Landgraf Wilhelm IX. von Hessen-Cassel nunmehr „Kurfürst“ nennen durfte, begann mit der „Rheinbundakte“ vom 12. Juli 1806 die Auflösung des „Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation“. An dessen Stelle trat im Westen der unter dem Protektorat des französischen Kaisers stehende „Rheinbund“, dem sich Kurfürst Wilhelm nicht anschließen wollte. Preußens Haltung führte sogar zum Krieg mit Frankreich, der in den Schlachten bei Jena und Auerstedt am 14. Oktober verloren ging. Noch im selben Monat sollte auch das Ende der Landgrafschaft Hessen-Cassel besiegelt werden.
Das Korps des Marschalls Eduard Mortier marschierte mit sechs Infanterie-Regimentern in die Landgrafschaft ein und erreichte am 31. Oktober die Residenz. Kurfürst Wilhelm gelang es nicht mehr zu verhandeln. In seinem letzten Befehl beurlaubte er seine Armee und verließ die Stadt ins Prager Exil. Mortier marschierte über die Fuldabrücke in Kassel ein und bezog dort Quartier. Kurze Zeit später kam auch ein Korps unter dem neuen holländischen König „Ludwig Napoleon“ und lagerte vor dem Holländischen Tor. Am 02. November kam schließlich der von Napoleon eingesetzte neue Generalgouverneur Joseph Lagrange in die Residenz. In den Gebieten westlich der Elbe wurden neue Truppen zur Unterstützung der Franzosen aufgestellt. So in Münster, Minden, Braunschweig, Erfurt und Fulda das „Regiment Westphalie“, und im Elsass zwei Regimenter des Franko-Hessischen Infanterie-Korps „Hesse-Cassel“.
Im Vertrag von Tilsit, der am 09. Juli 1807 zwischen Preußen und Frankreich geschlossen wurde, war die Bildung des Königreichs Westphalens vereinbart worden. Zur Hauptstadt und zum Hauptwaffenplatz wurde Kassel bestimmt. Magdeburg wurde Hauptfestung an der Elbe und erhielt eine französische Besatzung. Als zukünftigen König bestimmte der Kaiser seinen jüngeren Bruder „Hieronymus Napoleon“ (Jérôme). Im Vertrag von Tilsit wurde auch die Bildung eines Herzogtums Warschau geregelt. Die Wiedererrichtung des Königreichs Polen war undenkbar geworden, da der Zar die ehemals ostpolnischen Gebiete Litauens, Weißrusslands und der Ukraine nicht freigeben wollte. So wurde nur ein Herzogtum Warschau auf überwiegend preußischem Boden möglich. Der Vertrag regelte zumindest, dass die polnische Bevölkerung in den nicht angeschlossenen Gebieten Preußens und Russlands nicht in ihren Rechten und Bräuchen beeinträchtigt wird. In Anlehnung an die polnische Verfassung vom 03. Mai 1791, wurde das Herzogtum dem Königreich Sachsen in Personalunion angeschlossen. Hieronymus, der gerne König von Polen geworden wäre, erhielt zumindest den Oberbefehl über die westphälisch-sächsisch-polnischen Truppen und wurde von der polnischen Italien-Legion ("Legion polacco italienne") in seine neue Residenz „Kassel“ geleitet. Die Polen blieben, bis eigene westphälische Truppen aufgebaut waren. Am 01.01.1808 wurde die Verfassung des Königreiches in Kraft gesetzt, die erste deutschsprachige Verfassung in Europa.
Die westphälischen und französischen Truppen
Das II. Bataillon des Regiments Westphalie (Minden) und die bisher aufgestellten Regimenter „de Hesse-Cassel“ wurden im Januar 1808 nach Kassel verlegt, um die ersten beiden Regimenter des Königreiches zu bilden. Hinzu kamen die polnischen Lanzenreiter zur Bildung der königlichen Chevauxleger-Lancier und des Garde du Corps. Diese westphälische Armee sollte letztendlich über 25.000 Soldaten verfügen, die in unterschiedlichen Truppengattungen eingeteilt, an allen Kriegshandlungen der nächsten sechs Jahre teilnahmen. Neben den eigenen Truppenteilen standen aber auch französische und holländische Regimenter im Land. Nachweislich in Kassel auch das 3. Bergische Infanterie-Regiment. Westphälische Divisionen schlugen 1809 in Spanien und in Mitteldeutschland Aufstände nieder und zogen 1812 auch als Teil des VIII. Armee-Korps der "Grande Armée" mit einem sächsischen und einem polnischen Armee-Korps nach Russland. Aufgrund von Sicherungsmaßnahmen, durch Kämpfe und Krankheiten, wurde das westphälische Korps immer kleiner, bis es als solches nicht mehr existierte. Nur wenige Soldaten kamen in Moskau an und noch weniger überlebten den Feldzug. Die Tapferkeit der westphälischen, bayerischen und polnischen Soldaten trat mehrfach zu Tage und ist in der Literatur überliefert. Kurz nach dem Verlust der Truppen wurde ab dem Frühjahr 1813 eine neue westphälische Armee aufgebaut.
Die Aufstellung neuer französischer Einheiten erfolgte bereits im Januar 1813. Der französische Senat beschloss 137.000 Rekruten den noch vorhandenen Depots der verlorenen Armee zuzuteilen. 20.000 Rückkehrer aus Moskau, 40.000 Rückkehrer aus Spanien und 20.000 Marinesoldaten, sowie 78.000 Nationalgardisten traten hinzu. Im April folgten 180.000 Rekruten des Jahrgangs 1814 und Ehrengarden zu Pferd. In Deutschland wurden 100.000 Soldaten angeworben. Nach dem Frühjahrsfeldzug wurde für den Zeitraum 04. Juni bis 10. August 1813 ein Waffenstillstand vereinbart. Zum Ablauf dieses Vertrages standen der Grande Armée 14 Infanterie- und 5 Kavallerie-Korps mit insgesamt 450.000 Mann Feldtruppen und 75.000 Mann Besatzungstruppen zur Verfügung. Die Hauptarmee versammelte sich bei Dresden, das 14. Korps Davout stand in Hamburg. Im August, Oktober und November sollten weitere Aushebungen in den französischen Departements erfolgen. Von der Grenzfestung Mainz sollten die Marschkolonnen über Fulda und Erfurt zur Armee gehen. In Minden, an der Grenze zu Frankreich, stand die französische Division Lemoine mit 6.000 Mann und in der westphälischen Hauptfestung Magdeburg an der Elbe, mehrere Tausend Soldaten des Generals Lemarrois. Lemoine sollte von Minden aus die Festung Wesel decken und ggf. die Hauptfestung Magdeburg verstärken, was im September 1813 auch geschah.
Der Gegner
Die militärische Ausgangssituation für die kommenden Ereignisse muss an dieser Stelle kurz skizziert werden. Im Dezember 1812 war Preußen mit Frankreich verbündet und stellte ein Hilfskorps zur Sicherung der Marschroute nach Moskau. Der Befehlshaber dieses 21.000 Mann starken Korps, Generalleutnant Johann David Ludwig Yorck von Wartenburg, schloss am 29. Dezember in der Konvention von Tauroggen einen Geheimvertrag mit Russland. Auf russischer Seite war General Carl von Clausewitz maßgeblich beteiligt. Er war ein Schüler und Freund des preußische Heeresreformers und Generalstabschefs Gerhard von Scharnhorst. Nachdem König Friedrich Wilhelm III. am 26. Februar 1813 seine Zustimmung gab, konnten Scharnhorst und der Zar am 28. Februar den Bündnisvertrag in Kalisch unterschreiben. Am 16. März erklärte Preußen Frankreich den Krieg. Die Strategie Napoleons berücksichtigend, sollten eine russische Heeresabteilung die Festung Magdeburg und eine preußische Abteilung die sächsische Residenz Dresden angreifen. Diese Vorgehensweise führte nicht zum Erfolg und brachte nur den bereits genannten Waffenstillstand. Nach dem 10. August sollten die Kampfhandlungen wieder aufgenommen werden. Der Waffenstillstand wurde genutzt eine Koalition von Preußen, Russen, Schweden, Engländern und Österreichern zu bilden. Der „Trachenberger Kriegsplan“ vom 12. Juli 1813 sah die Bildung von drei Armeeabteilungen vor. Die „Nordarmee“ (250.000 Mann), unter dem Befehl des ehemaligen französischen Marschalls und schwedischen Kronprinzen Bernadotte, mit schwedischen Truppen, den beiden preußischen Korps Bülow und Tauentzien, sowie dem russischen Korps Wintzingerode; Die „Schlesische Armee“ (104.000 Mann) unter Generalfeldmarschall Blücher und seinem Stabschef Gneisenau mit dem preußischen Korps Yorck von Wartenburg und drei russischen Korps; der „Hauptarmee“ (250.000 Mann) unter dem Feldmarschall Schwarzenberg und seinem Stabschef Radetzky. Bei ihm befanden sich auch die drei Monarchen Russlands, Preußens und Österreichs. Eine in Polen aufgestellte russische Reservearmee stand im Rücken der Nord- und Schlesischen Armee in Bereitstellung. Die einzelnen Armeeabteilungen sollten sich keinen direkten Kampf mit Napoleons Hauptarmee liefern, sondern dessen Verbündete, bzw. die Flanken angreifen. Dadurch sollten die Kräfte des Gegners abgenutzt werden. Der Hauptschlag gegen Napoleon sollte in einer Umfassungsschlacht im Raum Dresden erfolgen. Bernadottes Nordarmee sollte zudem entlang der Elbe operieren und das Königreich Westphalen bedrohen.
Die westphälischen Streitkräfte am Beginn des Herbstfeldzugs 1813
Die westphälischen Streitkräfte befanden sich bei Beendigung des Waffenstillstands am 10. August in verschiedenen Standorten. Das 1. Linieninfanterie-Regiment stand in Danzig, die 2. und 3. Linie mit dem 1. Leichten Bataillon in Dresden, die 4. und 5. Linie in Küstrin, die 8. Linie mit dem 2. und 4. Leichten Bataillon in Schlesien. Die 6. Linie wurde nicht neu aufgestellt und durch die 9. Linie ersetzt, die nach Magdeburg marschierte. Das 1. und 2. Husarenregiment war bereits im Mai 1813 zu den Österreichern übergelaufen und trat der Deutschen Legion bei. In Kassel blieben also nur die 7. Linie, das 1. und 2. Kürassier-Regiment des Brigade-General Bastineller, die Artillerie und die verschiedensten Garden und Depots mit den Ersatzmannschaften.
Das Misstrauen Napoleons gegenüber den westphälischen Truppen war so groß, dass er die 31. westphälische Division des Generals Louis Danloup-Verdun auf verschiedene Korps und Divisionen verteilte. Dem König von Westphalen empfahl der Kaiser französische Soldaten nach Kassel zu holen, was dieser anfangs ablehnte. Erst am 05. August 1813 wurde das französische "Hieronymus-Napoleon-Husaren-Regiment" als Garde-Regiment in Kassel aufgestellt. Die 600 Rekruten kamen aus den Departements um Metz und Luxemburg und wurden in Kassel ausgerüstet und ausgebildet. Da gute Pferde fehlten, waren nur die Hälfte der Soldaten beritten. Napoleon schrieb deshalb aus Görlitz, dass der westphälischen Kavallerie die Pferde abgenommen werden sollte, damit diese den Garde-Husaren und den Franzosen in Frankfurt und Magdeburg gegeben werden können. Aber auch der französische Gesandte Reinhard empfahl dem König die Anforderung von französischer Infanterie. In Kassel, wo damals 22.000 Menschen lebten, kam es bereits vermehrt zu Desertionen und Hinrichtungen, wie im Lager auf dem Kratzenberg. Außerdem waren die neuen Rekruten sehr jung und unerfahren und für die anstehenden Kämpfe nicht geeignet.
Czernicheff greift Kassel an
Am 24. September wurden 4.000 russische Kavalleristen, 2.000 Jägern und Artillerie bei Mühlhausen aufgeklärt und bei Magdeburg drei russische Infanterie-Regimenter gesichtet. König Hieronymus-Napoleon forderte sofort die 54. französische Marschkolonne aus Mainz an und bildete zwei Observationskorps unter den Brigade-Generalen von Zandt und Carl Gottlob von Bastineller. Sie sollten in Richtung Hannover und Harz operieren. Zandt ritt mit zwei Escadronen Chevauxleger und Garde-Husaren, sowie 80 Chasseur-Karabiniers (gelernte Jäger) nach Braunschweig. Bastineller nahm seine beiden Kürassier-Regimenter und das 3. Leichte Bataillon und zog nach Berka. Beide konnten tatsächlich russische Verbände im Raum Braunschweig und kurz vor Eschwege melden. Zandt wurde sofort nach Kassel beordert und sollte in Hannoversch-Münden von der 7. Linie aufgenommen werden. Bastineller dagegen wurde eine Verteidigungsstellung zwischen Witzenhausen und Melsungen befohlen, um die russische Kavallerie aufzuhalten.
Bei den Russen handelte es sich um das Korps des kaiserlichen Adjutanten und Kavallerie-Generals Alexander Iwanowitsch Czernicheff. Er gehörte zur Nordarmee und stand unter dem Befehl des russischen Generals Wintzingerode. Er sollte in Westphalen eindringen und den König wenn möglich festnehmen. Er gelangte durch eine Lücke in der Linie Bastinellers und erreichte mit 2.300 Pferden am frühen Morgen des 28. September den Kaufunger Wald. Im Morgennebel traf er bei Helsa und Kaufungen auf erste westphälische Vorposten. Zwei Kompanien Garde-Jäger und 25 Garde-Husaren zu Fuß patroullierten auf der Leipziger Straße. Auf dem Forst vor dem Leipziger Tor kam es gegen 08:00 Uhr zu einem Gefecht, bei dem die Hälfte der westphälischen Soldaten fiel. Czernicheff ließ mit vorgefundenen Kanonen die auf dem Friedrichsplatz angetretene westphälische Kavallerie beschießen und drang über das Leipziger Tor in die Unterneustadt ein. 50 Garde-Husaren verteidigten gegen 09:00 Uhr die Fuldabrücke. Die Russen zogen ab. Gegen 10:00 Uhr wurde russische Kavallerie bei der Fuldafurt an der Neuen Mühle gesichtet. Der König entschloss sich zu einem Gegenstoß und verließ mit dem Garde du Corps, zwei Escadronen Garde-Husaren und den Garde-Grenadieren das Frankfurter Tor. Die Russen konnten zurückgeschlagen werden und der König ritt zur Knallhütte. Er hoffte auf die Kavallerie Bastinellers und die angeforderte Marschkolonne aus Mainz. Gegen 15:00 Uhr entschloss er sich nach Jesberg zu reiten um dort auf die Franzosen zu warten. Im Verlauf der nächsten Stunden ritt er dann nach Marburg und schließlich bis nach Koblenz an den Rhein.
General Bastineller war überrumpelt worden und das 3. Leichte Bataillon lief geschlossen über. Czernicheff zog sich in den Kaufunger Wald und schließlich bis nach Melsungen zurück. In Kassel kommandierte der Artillerie-General Jacques Alexandre Allix de Vaux die restlichen Truppen und wurde am 29. von Brigade-General Zandt verstärkt. Am 30. September griff Czernicheff wieder an. Mit ihm kam das übergelaufene 3. Leichte Bataillon, dass am Leipziger Tor mit dem Bajonett die Garde-Jäger und die 7. Linie attackierte bis diese auseinander liefen. Die Fuldabrücke wurde nur kurze Zeit durch die Chasseur-Karabiniers verteidigt. Auf dem Altmarkt und dem Marställer Platz stehende Garde-Husaren wurden durch die Bevölkerung überwältigt und misshandelt. Nachdem die Barrikaden geräumt waren, wurde das Tor an der Brücke geöffnet. General Allix erhielt die Aufforderung ehrenvoll zu kapitulieren. Am Abend passierte er mit den wenigen verbliebenen Soldaten das Kölnische Tor in Richtung Arolsen. So wurde Kassel am 01. Oktober 1813 von General Czernicheff eingenommen und das Königreich für aufgelöst erklärt.
Die Rückkehr des Königs
General Allix erreichte am 02. Oktober Marburg, wo ihm französische Truppen unter dem westphälischen General Danloup-Verdun entgegen kamen. Ein Wutausbruch und unbedachte Worte führten fast zu einem Duell zwischen den Generalen. Allix übernahm die Truppen und marschierte in Richtung Kassel. Hinter ihm die 54. Marschkolonne unter General Antoine Rigau auf dem Weg über Rotenburg nach Kassel. Czernicheff wusste, dass er mit seinem Streifkorps die Stadt nur vorübergehend halten konnte. Die westphälische Nationalgarde sorgte für Ordnung in der Stadt und der mit Czernicheff gekommene hessische Freiheitskämpfer Wilhelm von Dörnberg, stellte ein Freiwilligen-Bataillon mit 1.000 Soldaten auf. Unter Mitnahme der königlichen Kasse (79.000 Taler) und 22 Geschützen verließen die Eroberer am 03. Oktober die Residenz in Richtung Norden.
Am 07. Oktober erreichte General Allix mit den ersten von über 8.000 französischen Soldaten die Stadt. Gegen 14:00 Uhr ritten je zwei Escadronen Hieronymus-Napoleon-Garde-Husaren, Ehrengarden, Lanciers, Dragoner und Jäger ein. Dahinter 2.000 Infanteristen der Kaisergarden und Artillerie. Mit diesen kamen auch Reste des Garde du Corps und berittene Garde-Grenadiere nach Kassel zurück. Am 09. Oktober erreichte auch die 54. Marschkolonne unter General Rigau die Stadt. Neben französischer Infanterie, vermutlich Veteranen aus Spanien, folgten Dragoner und Jäger zu Pferd, sowie ein großer Artillerie-Train. Am 13. Oktober erließ der König den Befehl, dass sich auch die auseinandergelaufenen westphälischen Truppen zu sammeln hätten und reiste am 15. ebenfalls in seine Hauptstadt.
In den folgenden Tagen, vom 16. bis 19. Oktober, fand die Völkerschlacht bei Leipzig statt. Der König erhielt erst am 25. Oktober vom Ausgang Nachricht, als westphälische Einheiten auf dem Rückmarsch in Kassel ankamen. Napoleon wurde in Leipzig fast eingekesselt und befahl den Rückzug über die einzige erreichbare Brücke über die Elster. Die Polen unter Marschall Józef Antoni Poniatowski mussten seinen Abzug decken und wurden von den Gegnern auf engsten Raum bedrängt. Unbedachte französische Soldaten sprengten die Brücke vorzeitig. Die Polen versuchten durch die Elster zu schwimmen. Poniatowski sprang schwer verwundet mit einem Pferd in den Fluss. Dort versank er unter tragischen Umständen. Die Reste der Westphalen marschierten nach Kassel und die Franzosen zogen über Erfurt und Wetzlar zur Festung Mainz. Starke Kolonnen der Nord- und der Schlesischen Armee folgten beiden. Bei Erfurt kam es nochmals zu Gefechten.
Noch am 25. Oktober verließen die ersten französischen Einheiten die Stadt. Der König Hieronymus Napoleon reiste am 26. ab und am 27. passierte General Rigau mit den letzten französischen Soldaten und Zivilisten das Holländische Tor in Richtung Paderborn. Zurück blieben 250 erkrankte und nun kriegsgefangene französische Soldaten in der Charite.
Fortbestehen der westphälischen Verwaltung
Als Erste erreichte die Avantgarde der Nordarmee unter dem jungen General Michail Semjonowitsch Woronzoff die Stadt. Er gehörte zum Korps des russischen Generals und gebürtigen Hessen, Ferdinand v. Wintzingerode. Etwas später erreichte die Avantgarde der Schlesischen Armee unter General Jousesowitsch die Stadt. Er gehörte zum 8. Korps des russischen Generals und gebürtigen Franzosen Graf Guillaume St. Priest, der am 29. mit seinem Korps in die Garnison einzog und bis zum 06. November in Kassel blieb. Am 05. erlies er noch die Proklamation, dass die westphälischen Behörden nach wie vor ihren Dienst versehen und eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung bestraft würde. Vor seiner Abreise ernannte er den Obersten v. Ratzen zum Stadtkommandanten. Eine Anordnung von Feldmarschall Schwarzenberg vom 07. November, stellte ebenfalls fest, dass das Königreich Westphalen formal noch existiert. Am 28. Oktober erreichte das zur Nordarmee gehörende Korps des Generals Friedrich Wilhelm Bülow von Dennewitz die Stadt. Dieser marschierte in Richtung Münster weiter.
Unter dem Geläut aller Kasseler Glocken und unter Kanonendonner betrat der hessische Kurprinz Wilhelm am 30. Oktober gegen 14:00 Uhr seine Heimatstadt. Am Abend fand ein Ball im Opernhaus statt, bei dem alle kaiserlich-russischen Generale und Stabsoffiziere anwesend waren. Anfang November wurde auch die Charite geräumt und das Gebäude für die Aufnahme russischer Soldaten vorbereitet. Die Stadtkaserne wurde Lazarett für die Offiziere, und die ehemalige Kaserne der westphälischen Chasseur-Karabiniers, das für die französischen Kriegsgefangenen. Am 04. November passierte das Korps Wintzingerode über das Leipziger und das Holländische Tor die Stadt in Richtung Paderborn. Dort traf dessen Avantgarde auf die Nachhut des Generals Rigau. 130 französische Kriegsgefangene wurden kurze Zeit später nach Kassel gebracht.
Am 21. November hielt der Kurfürst in Kassel Einzug. Bereits am darauffolgenden Tag wurde die am 01. November 1806 beurlaubte kurhessische Armee wieder einberufen. Am 24. erfolgt der Aufruf dem freiwilligen Jägerkorps beizutreten und an die im Land befindlichen hessischen und westphälischen Offiziere, ihren Dienst in den kurhessischen Streitkräften zu nehmen. Diese sollte 24.000 Soldaten umfassen. Im Dezember berichtete die Allgemeine Kasseler Zeitung fortwährend über die Bemühungen und Fortschritte die Kurhessische Armee aufzustellen. Unterbrochen wurden die Ausführungen über die Berichte vom Durchzug des 10.000 Mann starken russischen Ergänzungskorps des General-Leutnants und Prinzen Romodanovsky-Ladyshensky. Wenig später folgten Korps aus Sachsen-Weimar und Preußen. Am 10. Januar 1814 nahmen der Kurfürst, der Herzog von Sachsen-Weimar, der Kurprinz und der preußische General v. Kleist eine Parade auf dem Königsplatz ab. Am 17. wird die erste Liste des kurhessischen Offizierskorps veröffentlicht und am 20. marschierten die Regimenter Kurfürst und Kurprinz zu Feldmarschall Blücher nach Koblenz.
Am 22. Januar 1814 wurde, gemäß der kurfürstlichen Verordnung vom 04. Januar, der Code Zivil des Königreichs Westphalen außer Kraft und das kurhessische Recht vom 01. November 1806 an dessen Stelle gesetzt. Das Königreich Westphalen hörte offiziell auf zu existieren.
Die letzten Augenzeugen
2008 fanden Bauarbeiter in der Nähe der ehemaligen Kaserne der westphälischen Chasseur-Karabiniers ein Gräberfeld. Anthropologische Untersuchungen ergaben, dass es sich bei den 109 gefundenen Skeletten um junge Männer aus den Benelux-Staaten und älteren Männer mit verheilten Kriegsverletzungen handelt. Es fanden sich Spuren eines Bakteriums, wie es auch bei anderen Kriegsgräbern der napoleonischen Kriege zu finden ist. Veränderungen am Knochenbau weisen ebenfalls auf Soldaten hin. Es ist deshalb mehr als wahrscheinlich, dass es sich um die Grablege der über 95 französischen Kriegsgefangenen handelt, die im November 1813 im städtischen Hilfshospital, also der ehemaligen Kaserne der Chasseurs, verstarben. Die Quellen berichten von einem starken Fieber, wie es in vielen damaligen Lazaretten aufkam. Innerhalb weniger Tage trat der Tod ein. Die damalige „Städtische Kommission“ sah sich nicht in der Lage über das „Collegio medico“ ärztliches Personal zu bestellen oder die Kriegsgefangenen zu verlegen. Die „Truppen-Verpflegungs-Kommission“ und das Militär konnten die Situation aber bewältigen. Trotzdem beklagten sich noch im Februar 1814 die Hausbesitzer an der Bremer Straße über die Zustände und Gerüche im Hilfslazarett. Das vom Kurfürsten beauftragte Kriegsministerium ermittelte schließlich gegen den Direktor der Militär-Hospitäler, konnte aber nur ein Versäumnis der städtischen Behörden feststellen.
Hier stellt sich die Frage nach dem Verhältnis der Kasseler Bevölkerung zu den westphälischen und französischen Soldaten. Die Biografie des Försters Fleck, der als Chasseur-Karabiniers in Kassel stationiert war und 1812 in russische Gefangenschaft geriet, gibt eine erste Auskunft:
„Ich kann nicht sagen, dass wir mit absonderlicher Freudigkeit diesen Marsch antraten; wir waren Deutsche, und es konnte uns unmöglich entgehen, dass Russland, gegen das wir kämpfen sollten, eine und dieselbe Sache mit Deutschland habe, und dass wir daher im Begriff standen, gegen den Vorteil unseres eigenen Vaterlandes feindlich aufzutreten. Indes hatten wir nicht Zeit zum Nachdenken, und es half uns auch nichts; wir waren froh, des einförmigen Kasernenlebens und ermüdenden Paradedienstes gewiss auf lange Zeit enthoben zu sein.
Wir kamen am ersten Tage unseres Ausmarsches über Münden bis nach Göttingen, wo uns Nachtquartiere angewiesen wurden. Die Göttinger Bürger wie die Studierenden nahmen uns höchst freundschaftlich auf; wir kamen nach langer Zeit zum ersten Mal wieder in näheren Verkehr mit Bürgern, die es sich angelegen sein ließen, uns aufs Beste zu behandeln und wir konnten einen Vergleich zwischen hier und Kassel anstellen, der freilich sehr zum Nachteil des letzteren ausfiel.
In Kassel begegnete man uns, kamen wir je in Berührung und Verkehr mit dortigen Bürgern, sehr kalt und nachlässig und wir kehrten gern in unsere engen Kasernen zurück; man hielt uns dort für Werkzeuge der Tyrannei und verachtete uns als solche. Man bedachte nicht, dass wir gezwungen waren und die Bürger Kassels vergaßen, dass ja auch sie selbst ganz ruhig die Herrschaft eines Bruders von Napoleon ertrugen, ja um so lieber ertrugen, als ihre Stadt der Sitz der höchsten Regierungsbehörden war und von der Hofhaltung Jéromes einen großen Vorteil hatte.
Dennoch wurde dem Soldaten dort nicht die Achtung und Liebe gegeben, auf die er, wie das Mitglied jedes anderen rechtlichen Standes, Anspruch hat. So konnte es nicht fehlen, dass die liebevolle und gütige Behandlung, die uns allen in Göttingen zuteil wurde, eine dankbare, angenehme Erinnerung bei uns zurückließ.“
Wie bereits erwähnt, kam es am 30. September bei dem Angriff Czernicheffs auf die Stadt Kassel zu einem Aufstand auf dem Altmarkt. Die Bürger Kassels zogen die Garde-Husaren von den Pferden und misshandelten diese. Bei den gefundenen Skeletten handelte es sich auch um Angehörige dieses Regimentes. Die Anthropologen konnten bei den Toten auch Mangelerscheinungen feststellen, die aufgrund von fehlender Nahrungsaufnahme in den letzten Lebenswochen entstanden. Die Soldaten starben somit auch an den Folgen mangelnder Versorgung.
Die hohe Zahl der Desertionen bei den westphälischen Truppenteilen zeigt ebenfalls den Druck, der durch die einheimische Bevölkerung auf die Soldaten ausgeübt wurde. Noch in Hannoversch-Münden hatte die dortige Bevölkerung auf die Soldaten des Brigade-Generals Zandt eingewirkt und viele von diesen zur Desertion überredet.
Vermutlich handelte es sich aber nur um eine regionale Erscheinung, wie es König Hieronymus Napoleon am 14. Oktober 2013 in einem Brief an den Kaiser ausdrückte:
„Der Pöbel in Kassel ist schlimmer gewesen als der Feind“, „Göttingen hat sich vortrefflich betragen“, „Der Pöbel muß durch Gewalt in Ordnung gehalten werden“.
Die letzten Monate der Westphälischen Herrschaft in Kassel
Die Festung Magdeburg 1813-1814
Die Knochenfunde vom Universitätscampus Kassel 2008
Am 16. Januar 2008 wurden bei Bauarbeiten auf dem Universitätsgelände an der Kurt-Wolters-Straße die ersten vier von sechzig Skeletten von dort beerdigten Menschen gefunden. Der Fund wurde über die Presse der Öffentlichkeit bekannt gemacht und die Toten erregten die Aufmerksamkeit großer Teile der Kasseler Bevölkerung. Am 21. Januar besichtigte Christian Klobuczynski die Fundstelle und nahm Kontakt zu den dort ermittelnden Beamten des Kommissariats 11 auf. Dem Kriminaloberkommissar Schabacker konnten noch vor Ort erste Angaben zur ehemaligen Nutzung der Fläche als Kaserne gemacht werden. Für den darauffolgenden Tag wurde ein Termin im IBF-Kassel vereinbart, um Karten und Fotos übergeben zu können. Das Material stand zur Verfügung, da das Institut bereits seit längerer Zeit zur Militärgeschichte Kassels recherchierte und im Zusammenhang mit der 200-Jahrfeier des Königreichs Westphalens mehrere Stadtteilrundgänge geplant hatte. Bei der Sichtung der Fundstelle konnten auch Fundamentreste einem in den 30-Jahren gebauten Henschelgebäude zugeordnet werden, was auf drei liegenden Skeletten gegossen wurde. Somit konnte am 21. Januar bestätigt werden, dass die Toten nicht in den Zeitraum der nationalsozialistischen Herrschaft gehören. Bereits am 17. Januar hatte ein Augenzeuge ausgesagt, dass beim Bau der Henschelanlagen Gräber gefunden wurden. Die "Kasseler Neueste Nachrichten" vom 21. und 22. Oktober 1936 berichteten darüber. Am 22. Januar gab Christian Klobuczynski die ersten Interviews. Oberhalb der Gräber und den gefundenen Fundamenten wurden Filmaufnahmen des HR-Studio Kassel (Herr Ommert) und von RTL-Kassel (Frau Rühl) gedreht. Zeitungsinterviews wurden auch der Deutschen Presse-Agentur (dpa) und der Internet-Zeitung "Das hessische Journal" gegeben.
Die Frage, wer die Toten seien, konnte zu diesem Zeitpunkt nicht beantwortet werden. Da die Gräber im Bereich der ehemaligen Außenwallanlagen der Festung Kassel lagen, hätten die Gebeine bereits mehrere Jahrhunderte dort liegen können. Nach der historisch-kritischen Methode der Geschichtswissenschaften müsste also nach zeitgenössischen Quellen gesucht werden. Auch müsste man Vermessungsarbeiten durchführen, damit die Höhe und das Ausmaß der Grablage eindeutig einem bestimmten Bebauungszeitraum zugeordnet werden kann. Anthropologen müssten Herkunft und Liegedauer bestimmen und Genealogen nach schriftlichen Primär- und Sekundärquellen suchen, wie Briefen oder Berichten. Nach dem Ausschlussverfahren würden passende Ereignisse schließlich zugeordnet.
Am 24. Januar veröffentlichte die Hessisch-Niedersächsische-Allgemeine (HNA) einen Hinweis des Architekten und Doktoranden Christian Presche, der auch Vorstandsmitglied des Vereins für Hessische Geschichte und Landeskunde e.V. ist. Christian Presche bezog sich auf das Buch "Die Bau- und Kunstdenkmäler im Regierungsbezirk Cassel, Band VI., Kreis Cassel-Stadt, Marburg 1923" von Alois Holtmeyer. Auf der Seite 545 wurde von einer Typhus-Epidemie unter der Zivilbevölkerung berichtet, die 1814 aufgrund von Truppendurchmärschen ausbrach. In diesem Zusammenhang sollte auch das Militärhospital im Modellhaus stehen, wo die Sterblichkeit sehr hoch war. Diese Angaben übernahm Holtmeyer aus der "Casseler Tages-Post" vom 30. Januar 1866. Obwohl es sich bei dieser Überlieferung um einen Zeitungsartikel aus 1866 handelte, der ein mögliches Ereignis von 1814 beschrieben hatte, erhielt die These der Typhus-Epidemie Unterstützung durch den Stadtarchivar Frank-Roland Klaube. Am 24. Januar untersuchten der Rechtsmediziner Dr. Marcel Verhoff und der Anthropologe Jonathan Krähahn die 60 Skelette, unter denen sie drei Frauen identifizierten. Da die Zähne keine Spuren einer zahnärztlichen Behandlung zeigten, seien die Toten bereits weit vor dem Weltkrieg verstorben und keine Opfer eines Gewaltverbrechens. Daraufhin stellte die Polizei ihre Ermittlungen ein. Am 25. Januar teilte die Presse mit, dass es sich um Tote der Typhus-Epidemie von 1814 handelt. Da es sich bei den Gebeinen nicht mehr um Leichen handelt, wurden sie zum Eigentum der Universität Kassel erklärt. Die Stadt bot sich an, für eine Bestattung in einem Sammelgrab zu sorgen. Die Gebeine wurden in Pappkartons verpackt und am Hauptfriedhof abgestellt.
Das vorschnelle Ende der Untersuchungen und die Freigabe des Fundortes an das Bauunternehmen beunruhigten Christian Klobuczynski, weshalb er sich mit dem Stadtarchivar Klaube in Verbindung setzte und seine Bedenken äußerte. Die HNA erhielt Kenntnis davon und machte ein erstes Interview. Klobuczynski wies auf einen Bebauungsplan von 1810 hin, der eine mögliche Beerdigung im Zeitraum 1814 in Frage stellte, da dort eine militärische Brotbäckerei stand. Auch wäre zu überlegen, ob Opfer einer Typhus-Epidemie tatsächlich direkt neben einem Gewässer beerdigt worden wären. Es wurde für den 30.01. ein Treffen im Stadtarchiv vereinbart, bei dem die Herren Klaube und Presche, sowie die HNA anwesend waren. Christian Klobuczynski zeigte verschiedenes Kartenmaterial und wies darauf hin, dass die Angaben bei Holtmeyer durch eine intensivere Quellenforschung bestätigt werden müssten. Da es bei der Belagerung Kassels 1761 zu Kampfhandlungen im Bereich der Fundstelle kam und Soldaten auf den Wällen beerdigt wurden, müssten weitere Möglichkeiten der Bestattung untersucht und ggf. ausgeschlossen werden. Eine zu schnelle Festlegung auf einen Zeitungsbericht entspricht nicht der üblichen Vorgehensweise. Stadtarchivar Klaube wies darauf hin, dass im Stadtarchiv keine Dokumente aus dem fraglichen Zeitraum überliefert sind. Christian Klobuczynski erklärte im Rahmen seines Instituts weiter recherchieren zu wollen und schlug eine Kooperation mit den Gesprächspartnern vor. Stadtarchivar Klaube argumentierte, dass die Stadt nur wenige hundert Euro für so eine Recherche ausgeben würde und Christian Presche begründete sein fehlendes Interesse mit seiner Dissertation. Zudem sei die Universität als Eigentümerin des Fundortes für eine wissenschaftliche Aufarbeitung zuständig. Am 30. Januar erklärte Universitätspräsident Postlep, dass die Universität keine weitere Forschungen betreiben wird.
Als Genealoge sah sich Christian Klobuczynski nun aufgefordert auf eigene Kosten zu recherchieren. Nach der Beisetzung der Toten am 08. Februar führte er aber zuerst mehrere militärhistorische Rundgänge zum Königreich Westphalen durch und besuchte mit den Teilnehmern die ehemaligen Kasernenstandorte und natürlich auch die Fundstelle. Es folgten wochenlange Recherchen der Fachliteratur und der zeitgenössischen Zeitungen, sowie mehrere Archivbesuche. Einen Hinweis auf eine Typhus-Epidemie unter der Stadtbevölkerung 1814 konnte er nicht finden, dafür aber mehrere Quellen zu den Vorgängen im Hilfshospital am Wall. Am 01. September 2008 übergab Christian Klobuczynski dem Bürgermeister ein am 26. August fertiggestelltes Gutachten, in dem die damaligen Vorgänge beschrieben werden.
So starben im November 1813 95 französische Kriegsgefangene in diesem städtischen Hilfshospital aufgrund mangelnder Pflege und Versorgung. Verantwortlich war die Städtische Kommission, welche am 01. November 1813 die bei der Bevölkerung verhassten 250 kranken und kriegsgefangenen Franzosen in das für solche Zwecke ungeeignete Gebäude am Wall verlegte. Mitte November kamen 130 kriegsgefangene Franzosen aus Paderborn hinzu und einige Zeit später auch 180 russische Soldaten. Die Überbelegung und die schlechten hygienischen Zustände führten schnell zu fiebrigen Erkrankungen und aufgrund oben genannter Umstände zu Todesfällen bei den Franzosen. Die einheimischen Anwohner in der Bremer Straße klagten in dieser Zeit über eine starke Geruchsbelästigung und die ausgemergelten Gestalten an den Fenstern. Fehlende Mieteinnahmen führten schließlich zu einer Klageschrift. Der Direktor für die Militärhospitäler mahnte früh die Verlegung in ein anderes Gebäude und die Einstellung ausreichender Pflegekräfte und geeigneter Ärzte an. Die Städtische Kommission lehnte die Verlegung aber ab und war nicht in der Lage geeignete und bereitwillige zivile Ärzte zu finden. Schließlich ergriff das kurhessische Militär die Initiative und es wurden Militärärzte ins Hilfslazarett geschickt. Als der Kurfürst die Klageschrift erhielt, ließ er den Fall untersuchen. Die Städtische Kommission versuchte die Schuld auf den Direktor der Militärhospitäler zu schieben. Dieser konnte aber seine Bedenken bezüglich des Standortes und sein weiteres Engagement nachweisen.
Zeitgleich mit der Übergabe dieses Gutachtens wurde auch ein Gutachten der Rechtsmedizin der Universität Gießen bekannt gegeben. Dieses brachte keine weiteren Erkenntnisse und konnte letztendlich nur auf die These der Thypus-Epidemie von 1814 verweisen. Die HNA hat die Ergebnisse dieser Gutachten der Öffentlichkeit mitgeteilt und betont, dass Christian Presches These lediglich auf dem Zeitungsartikel von 1866 beruht. Da das Stadtarchiv im Krieg abgebrannt war, ließe sich der Fall vermutlich nie aufklären (HNA vom 28. August 2008).
Der Direktor des Kasseler Naturkundemuseums Dr. Kai Füldner war ebenfalls an der Fortführung der Recherchen interessiert und setzte sich mit dem Institut für Zoologie und Anthropologie in Göttingen in Verbindung. Unter der Leitung von Dr. Birgit Großkopf konnte eine Doktorandenstelle geschaffen werden. Die Gebeine wurden exhumiert und nach Göttingen gebracht. Dort wurden sie von Philipp von Grumbkow untersucht. Es konnte festgestellt werden, dass es sich bei den Toten um Männer aus den Benelux-Ländern handelt, die höchstwahrscheinlich zu den napoleonischen Streitkräften gehörten. Neben dem Nachweis eines Bakteriums, welches auch bei den Soldatengräbern in Vilnius nachgewiesen werden konnte, gelang es auch Mangelerscheinung festzustellen. So war nachgewiesen, dass die Soldaten in den letzten Wochen ihres Lebens hungerten. Die tatsächliche Zahl der Toten beläuft sich auf mindestens 109 Personen. Teilweise fehlen Gebeine und der schlechte Erhaltungszustand aufgrund der unsachgemäßen Behandlung im Fundzeitraum erschwerte die Arbeit zusätzlich.
Nach der Bekanntgabe der Göttinger Recherchen fanden im Herbst 2012 erste Gespräche mit Frau Dr. Großkopf und Herrn Dr. Füldner statt. Christian Klobuczynski konnte die Gebeine in Göttingen in Augenschein nehmen und militärhistorische Fragen beantworten. So wurden für Infanteristen typische körperliche Beschwerden und Waffenwirkungen besprochen, auf die Veränderungen am Knochenbau hinwiesen. Da auch das IBF-Kassel die Y-STR-Signatur-Analyse im Rahmen seiner genealogischen Forschungen nutzt und Christian Klobuczynski die Ergebnisse der Forschungen an den Soldatengräbern in Vilnius bekannt waren, war es auch möglich gezielte Fragen zur Herkunft der Toten zu stellen. Mit Dr. Füldner vom Naturkundemuseum wurde eine Kooperationsvereinbarung bezüglich Offenlegung der Quellen und einer militärhistorischen Beratung geschlossen. Da bestätigt werden konnte, dass es sich um französische Soldaten aus dem Gebiet westlich des Rheins handelt, bestand die folgende Aufgabe darin, passende französische Einheiten zu finden, die sich im Zeitraum 1813/1814 in Kassel aufhielten.
Das IBF-Kassel hatte bereits Übersichten über alle im Königreich Westphalen stationierte Einheiten und eine Chronologie der militärhistorischen Ereignisse in Kassel im Zeitraum 1806 bis 1815 erstellt. Es erfolgte eine nochmalige Durchsicht der militärhistorischen Fachliteratur und die gezielte Recherche nach Personen und Einheiten. So wurden die militärischen Truppenbewegungen im Zusammenhang mit der Völkerschlacht bei Leipzig überprüft. Diese wieder mehrere Monate dauernde Arbeit führte zu passenden Funden. Es ist nachweisbar, dass nur in Minden, Magdeburg und Kassel französische Einheiten lagen. In Kassel waren es die Hieronymus-Napoleon-Husaren, Garde-Husaren aus dem Raum Luxemburg und Metz, die erst im August 1813 nach Kassel kamen und hier ausgebildet wurden. Sie waren Konskribierte und vermutlich vorzeitig eingezogen worden. Deshalb waren sie auch sehr jung und mussten erst noch reiten lernen. Im Oktober kamen zudem die Truppen der Generale Danloup-Verdun und Rigau nach Kassel. Sie waren aus Mainz gekommen um den König und seine Residenz zu schützen. Während Danloup-Verdun überwiegend Garde-Kavallerie mitführte, waren es bei Rigau Infanterie und Artillerie. Darunter auch ältere Soldaten und Rekonvaleszente, die vermutlich in Spanien kämpften und nach Sachsen verlegt werden sollten. Ihr Weg sollte von Mainz über Erfurt nach Leipzig führen. Kassel lag somit nicht an der Marschroute. Da die Schlacht bei Leipzig verloren ging und die Reste der Grand Armee bereits in Mittelhessen waren, marschierten die Truppen Rigaus über die Holländische Straße an den Rhein. In Paderborn blieben sie einige Tage. Die Nachhut wurde von russischen Truppen erreicht und 130 verwundete Franzosen wurden nach Kassel gebracht. Die Garde-Husaren und die Truppen Rigaus passen somit genau zu den Ergebnissen der Untersuchungen in Göttingen. Eine Festlegung auf diese Truppen war vertretbar.
Das Naturkundemuseum erhielt Einsicht in die Quellen, Aufzeichnungen und die Chronologie der damaligen Ereignisse. Offene Fragen nach dem Verlauf der Ereignisse wurden in mehreren Sitzungen besprochen. Dazu wurden Quellenangaben zu zeitgenössischen Augenzeugenberichten, sowie Bild- und Kartenmaterial übergeben. In diesem Zusammenhang wies Christian Klobuczynski darauf hin, dass weitere Nachforschungen erfolgversprechend sind und das Institut mit ersten Recherchen begonnen hat und das nach einer ausreichenden Finanzierung der genealogischen Forschung gesucht werden muss.
Inzwischen hatte das Naturkundemuseum eine Ausstellung zum Thema erstellt. Vom 09. Juli 2013 bis zum 01. Mai 2014 wurden die Gebeine und Nachbildungen von zwei Soldaten präsentiert. Ein Unteroffizier der französischen Infanterie stand für die Soldaten Rigaus, die als Ersatzeinheiten nach Leipzig marschieren sollten und schließlich nach Kassel kamen. Der jüngere Soldat stand für die Hieronymus-Napoleon-Husaren, die ab August 1813 in Kassel stationiert waren und die Stadt gegen Chernicheff verteidigten. Viele wurden getötet oder verletzt und einige nach der Gefangennahme auch von Bürgern misshandelt. Die Figurengruppe stellt eine mögliche Version der Verlegung von der Charite in das Hilfslazarett am Wall dar. Das war am 01. November 1813. Die Uniformen der Figuren wurden anhand von übergebenen Uniformdarstellungen rekonstruiert. Neben dieser Figurengruppe werden weitere Gebeine präsentiert, die etwas über die körperliche Verfassung der Soldaten aussagen. Bilder, Zeichnungen und Texte zu den Recherchen rundenten die Ausstellung ab.
Stand 10. Juli 2014; Veröffentlichung nur mit Nennung des IBF-Kassel